Neudefinition der "verfassungsrechtlichen Streitigkeit"

Der Bundesverwaltungsgerichtshof hat den Begriff der "verfassungsrechtlichen Streitigkeit" neu definiert, eine Änderung, die jeden Jurastudierenden betrifft und die ich euch deshalb hier zusammenfassen möchte. 

1. Wann wird es relevant?

Bei der Frage, ob der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I 1 VwGO eröffnet ist. 

I. öffentlich-rechtliche Streitigkeit
II. nicht-verfassungsrechtlicher Art
III. keine abdrängende Sonderzuweisung

2. Was hat sich geändert?

Bisher wurde eine Streitigkeit nicht-verfassungsrechtlicher Art bisher angenommen, wenn weder Beteiligte des Verfassungskreises im Kern um Verfassungsrecht streiten, noch eine prinzipale Rechtssatzkontrolle des formellen Gesetzgebers zur Rede steht. 
Und auch andere Gründe, die den Streit zum Verfassungsrechtsstreit machen, nicht ersichtlich sind. 

Nach dem vorliegenden Urteil ist jetzt aber maßgeblich, ob es im Kern des Rechtsstreits um das staatsorganisationsrechtliche Können, Dürfen oder Müssen eines Verfassungsrechtssubjekts als solches, das heißt gerade um dessen besondere verfassungsrechtliche Funktionen und Kompetenzen geht.

Soweit so gut. Wer jetzt wirklich gar keine Lust mehr hat, weiß das wichtigste und kann es morgen mit dem Stapel "VwGO" direkt wiederholen.


Für alle anderen hier noch ein paar mehr Infos zum Urteil: 

3. Worum ging es?

Mehrere Aktivist:innen der BDS-Bewegung fühlten sich durch einen Beschluss des Bundestages („Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“, 2019) in ihren Grundrechten verletzt. Sie klagten vor den Verwaltungsgerichten.

Ihre Argumentation:

  • Der Bundestagsbeschluss habe faktische Auswirkungen.

  • Sie würden wegen ihrer Nähe zur BDS-Kampagne von Räumen, Veranstaltungen und Fördermitteln ausgeschlossen.

  • Deshalb liege ein Eingriff in ihre Grundrechte vor (Art. 5, 8, 9 GG u. a.).

2. Zentrale Rechtsfrage

Die spannende Frage: Welcher Rechtsweg ist eröffnet, wenn Bürger gegen einen Parlamentsbeschluss vorgehen wollen?

  • Verwaltungsgerichte (§ 40 Abs. 1 VwGO)?

  • Oder ausschließlich das Bundesverfassungsgericht (über die Verfassungsbeschwerde)?

3. Die Entscheidung des BVerwG (Urt. v. 26.03.2025 – 6 C 6.23)

Das Gericht hat die Revision zurückgewiesen. Kernpunkte:

  • Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind politische Willensäußerungen ohne rechtliche Verbindlichkeit.
    → Keine unmittelbare Rechtswirkung, sondern nur die politische Haltung des Parlaments.

  • Kein Verwaltungsrechtsweg (§ 40 Abs. 1 VwGO):

    • Es handelt sich um eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art.

    • Maßgeblich ist der materielle Gehalt der Streitigkeit: Geht es um die spezifischen verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundestages? → Ja.

    • Die sogenannte „doppelte Verfassungsunmittelbarkeit“ ist nicht erforderlich.

  • Rechtsschutz bleibt möglich – aber nur über die Verfassungsbeschwerde.

    • Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht verletzt, weil das Bundesverfassungsgericht den Schutz der Grundrechte sicherstellt.

4. Examensrelevanz

  • Begriff der "verfassungsrechtlichen Streitigkeit": maßgeblich ist, ob es im Kern des Rechtsstreits um das staatsorganisationsrechtliche Können, Dürfen oder Müssen eines Verfassungsrechtssubjekts als solches, das heißt gerade um dessen besondere verfassungsrechtliche Funktionen und Kompetenzen geht.

  • § 17a Abs. 5 GVG: Prüfungssperre gilt nicht zwischen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. 

5. Argumentation

  • Begriff der "verfassungsrechtlichen Streitigkeit": maßgeblich ist, ob es im Kern des RechtsstrWortlaut des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Begriff der verfassungsrechtlichen Streitigkeit nur Rechtsverhältnisse zwischen Verfassungsrechtssubjekten erfasst.
  • bei Verfassungsbeschwerden liegt auch keine doppelte Verfassungunmittelbarkeit vor

7. Staatsorganisationsrechtliche Aspekte auf materieller Ebene

auf materialrechtlicher Ebene sieht man in dem Urteil auch schön eine typische Staatsorganisationsrechtliche Argumentation. 
Was vielen Jurastudierenden (inkl. mir) schwer fällt ist, dass diese oft sehr frei ist. 
So greift das Gericht bei der Frage ob der Bundestag den Beschluss fassen durfte, auf Regelungen mancher Landesverfassungen zurück, die das Parlament als "Stätte der politischen Willensbildung" oder "
öffentliches Forum für die öffentliche Willensbildung" bezeichnen zurück. 

Auch wenn diese selbstverständlich nicht direkt anwendbar sind, würden sie das "Recht hervorheben, Grundsätze und Leitlinien der Landespolitik auf der Basis eines breiten Meinungsspektrum vor der Öffentlichkeit zu diskutieren und zu bewerten" und der Bundestag würde eine entsprechende Funktion der öffentlichen Willensbildung wahrnehmen. 
Somit würde die Kompetenz vorausgesetzt werden, ein beliebiges politisches Thema unabhängig von einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren aufzugreifen, öffentlich zu erörtern und auf dieser Grundlage gegebenenfalls einen eigenen Standpunkt festzuhalten.

Auch hierzu findet ihr selbstverständlich eine kurze Karteikarten im Stapel "Staatsorganisationsrecht". 

Viel Erfolg beim Lernen, 
Celine

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